Aktuelle Ausgabe


Werbeflyer Download   Werbeflyer



Nr. 172/173 Bildung für alle -- Versprechen oder Falle?


Inhalt:

Inhaltsverzeichnis

Peter Ay (1943 - 2023), S. 215

Theo Mutter (1945 - 2024), S. 219

Zu diesem Heft, S. 223

Jeannett Martin:
Muslimas mit Hochschulbildung in Westafrika. Eine Literaturschau zu Charakteristika und beruflichem Future Making, S. 230

Ulrike Schultz:
„Die Kinder gehen jetzt zur Schule“. Aspirationen, Entwicklungsdiskurs und Schulbildung in Lodwar, Nordkenia von 1989?2022, S. 259

Norina Eliane Fischer:
Meine, deine, unsere? Bildungsentscheidungen jordanischer Studierender im Spannungsfeld kollektiver Erwartungen und eigener Zukunftsvorstellungen, S. 287

Issa Tamou:
„Warum gehen die Leute noch zur Schule?“ Debatten über formale Bildung als Ausdruck sich verändernder Beschäftigungslandschaften im postkolonialen Nordbenin, S. 307

Banu Çιtlak:
Bildungsversprechen, Integration und Widerständigkeit im Migrationskontext, S. 327

Erdmute Alber:
Veränderungen elterlicher Verpflichtungen durch "Bildung für alle". Eine Untersuchung im ländlichen Raum Nordbenins, S. 347

Fabian Besche-Truthe:
Die historische Entwicklung des Hochschulzugangs im globalen Vergleich, S. 378

PERIPHERIE-Stichwort
Gabi Beckmann:
„Glaubensbezogene Bildung“, S. 402

PERIPHERIE-Stichwort
Sabrina Maurus:
„Bildung für Alle“, S. 406

REZENSIONEN, S. 410 - 440
Berthold M. Kuhn & Dimitrios L. Margellos: Global Perspectives on Megatrends. The Future as Seen by Analysts and Researchers from Different World Regions (Theo Rauch)
Sammelrezension zu:
Boike Rehbein: Die kapitalistische Gesellschaft
Vincent Houben & Boike Rehbein: Die globalisierte Welt. Genese, Struktur und Zusammenhänge
(Albert Denk)
jour fixe initiative Frankfurt (Hg.): Die Zukunft des Fortschritts ( Reinhart Kößler)
Asiem El Difraoui: Die Hydra des Dschihadismus. Entstehung, Ausbreitung und Abwehr einer globalen Gefahr (Matin Baraki)
Daniel Bendix, Franziska Müller & Aram Ziai (Hg.): Beyond the Master?s Tools? Decolonizing Knowledge Orders, Research Methods and Teaching (Eleonora Roldán Mendívil)
Jasper Finkeldey: Fighting Global Neo-Extractivism: Fossil-Free Social Movements in South Africa (Roland Ngam)
Jelke Boesten & Helen Scanlon (Hg.): Gender, Transitional Justice and Memorial Arts Global Perspectives on Commemoration and Mobilization (Rita Schäfer)
Sumi Madhok: Vernacular Rights Cultures. The Politics of Origins, Human Rights and Gendered Struggles for Justice (Aram Ziai)
Janina Puder: Akkumulation -- Überausbeutung -- Migration. Arbeit im malaysischen Palmöl-Industriellen-Komplex (Jakob Graf)
Gerd Spittler: Leben mit wenigen Dingen. Der Umgang der Kel Ewey Tuareg mit ihren Requisiten (Gerhard Hauck)
Thomas Wagner: Fahnenflucht in die Freiheit. Wie sich der Staat seine Feinde schuf Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie (Gerhard Hauck)
Reinhard Stockmann (Hg.): Handbuch zur Evaluation. Eine praktische Handlungsanleitung (Theo Mutter [+])

Eingegangene Bücher, S. 439
Summaries, S. 441
Zu den Autorinnen und Autoren, S. 444
Jahresregister, S. 445




Zu diesem Heft

Bildung gilt als eines der entwicklungspolitischen Kernziele. Sie ist ein zentraler Bestandteil der Messung von Armut und menschlicher Entwicklung sowie der Bestimmung von Geschlechtergerechtigkeit. Formale Bildung wird als die zentrale Maßnahme bezeichnet, um Armut zu überwinden und Entwicklung zu ermöglichen. Sie ist daher zentraler Bestandteil von Entwicklungszielen (z.B. den Millennium Development Goals 2 oder den Sustainable Development Goals 4 der UN) und gilt als eine der drei Dimensionen menschlicher Entwicklung im Human Development Index und im Multidimensional Poverty Index. In diesem Kontext wird häufi g von einer Armutsfalle gesprochen, einem sich selbst verstärkenden strukturellem Mechanismus, der es Menschen aufgrund mangelnder Möglichkeiten, eines geringen Einkommens oder fehlendem Zugangs zu Bildungschancen unmöglich mache, ihre Situation zu verändern. Eben dies gelte es, durch Bildungsexpansionen im Globalen Süden zu durchbrechen. Die Bedeutung von Bildung ist daher in den Zukunftserwartungen vieler Menschen im Globalen Süden (sowie für breite Bevölkerungsschichten im Globalen Norden) fest verankert. Mit dem Schul- und Hochschulbesuch der Kinder geht die Erwartung einer besseren Zukunft einher; Teilhabe und sozialer Aufstieg stehen in direktem Zusammenhang mit dem allgemeinen Entwicklungsversprechen. Familien nehmen daher häufig sehr hohe Kosten in Kauf, um ihren Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen.
Das Bildungsversprechen der Entwicklungsziele wird jedoch zunehmend in Frage gestellt. Ein wichtiger Grund dafür ist paradoxerweise die Expansion formaler Schulbildung (ohne eine gleichzeitige Expansion der formalen Arbeitsmärkte), die vielerorts zu einer Infl ation von Bildungsabschlüssen führt und diese faktisch entwertet. Verstärkt wird dieser Effekt durch die zunehmende Privatisierung formaler Bildung und die damit verbundene Neoliberalisierung der Bildungssysteme, die neue Exklusionen bedingt und Bildungschancen stark von den ökonomischen Möglichkeiten der Eltern und Verwandten abhängig macht. Diese Entwicklung steht in einem Spannungsverhältnis zum emphatischen Versprechen von Bildung für alle (s. den Beitrag von Erdmute Alber). Zudem entwickeln sich vielerorts die Arbeitsmärkte nicht so dynamisch wie die Einschulungsraten, so dass „educated unemployment“ zu einem weltweiten Phänomen geworden ist. Das ambitionierte Bildungsversprechen der Weltentwicklungsziele wird also zunehmend brüchig, während gleichzeitig immer mehr Menschen in die formale Bildung ihrer Kinder investieren.
In Bezug auf formale Schulbildung lassen sich gegenwärtig zwei gegensätzliche Tendenzen beobachten. Auf der einen Seite haben wir es mit einer globalen Verbreitung des Modells Schule im westlichen Sinne zu tun, das selbst in abgelegene bäuerliche Welten vorgedrungen ist und auch dort zu einem zentralen Bestandteil der Bildungslandschaft geworden ist, wo andere Formen von Schule, wie etwa Koranschulen, dominieren (s. den Beitrag von Jeannett Martin). Andererseits zeichnet sich bereits seit längerem ab, dass sich das Versprechen gängiger Modernisierungs- und Entwicklungskonzepte, demzufolge Bildung zu individueller wie kollektiver Emanzipation führe, für die Mehrheit schulisch gebildeter junger Menschen und deren Familien nicht erfüllt (s. den Beitrag von Ulrike Schultz). Während im entwicklungspolitischen Diskurs weiter der mangelnde Zugang zu formaler Schulbildung beklagt wird und Maßnahmen auf bessere Zugangsmöglichkeiten für Mädchen, städtische Arme und marginalisierte Gruppen zielen, stellt sich die Situation in vielen Ländern des Globalen Südens etwas anders dar. Einerseits besuchen immer mehr Kinder die Schule, andererseits diff erenzieren sich Bildungssysteme zunehmend aus. Es gibt große Qualitätsunterschiede zwischen privaten und staatlichen Schulen, zwischen Bildungseinrichtungen im Globalen Norden und im Globalen Süden, aber auch regionale Unterschiede innerhalb der postkolonialen Nationalstaaten fallen ins Gewicht. Um jedoch Zukunftschancen mit Hilfe von Bildung zu erschließen, werden immer höhere und exklusivere Bildungsabschlüsse nötig. Vielerorts versuchen junge Menschen daher, durch hochrangige Abschlüsse auf dem globalen Bildungsmarkt konkurrenzfähig zu werden. Damit sind allerdings sehr hohe Kosten für die Familien verbunden, die häufig zulasten anderer Lebensbereiche gehen. Die wenigen erfolgreichen Absolventen*innen stehen auf dem Arbeitsmarkt dann einer großen Zahl von Schulabbrecher*innen, aber auch arbeitslosen Schulabgänger*innen und Hochschulabsolvent*innen gegenüber. Formale Schulbildung hat diese jungen Menschen und ihre Familien in eine Sackgasse geführt. Zukunftsvorstellungen werden sehr unsicher.
Auch wenn sich der Zugang zu schulischer Bildung bei marginalisierten Bevölkerungsschichten insgesamt verbessert hat, zeigen sich die Grenzen staatlicher und internationaler Bildungspolitik deutlich in der schlechten Qualität staatlicher Schulen. Zudem verfügen insbesondere Mitglieder marginalisierter Gruppen häufig über fragmentierte Bildungsverläufe, da auch arme Familien weiter, wenn auch häufig geringe, Schulgebühren bezahlen müssen.
Problematisch ist der vorherrschende Diskurs auch deshalb, weil er auf formale Schulbildung begrenzt ist, die häufig als nicht vereinbar mit anderen Lebensentwürfen und livelihoods gilt. Studien über Schulen im Globalen Süden zeigen, dass postkoloniale Staaten versuchen, Bildung zur Förderung einer nationalen Kultur einzusetzen und auf diese Weise marginalisierte Bevölkerungsgruppen in diese Kultur zu integrieren und Kontrolle über sie zu gewinnen. Im Ergebnis identifizieren sich junge Menschen mit dem Nationalstaat und distanzieren sich von lokalen Kulturen und alternativen Formen der Zugehörigkeit. Zudem werden alternative Lebensmodelle diskreditiert und spielen in den Visionen gebildeter junger Menschen keine Rolle mehr.
Diese Problematik greift Jeannett Martin auf. Ihre Literaturschau zu westafrikanischen Muslimas mit Hochschulbildung und zum berufl ichen future making studierter Muslimas arbeitet, basierend auf der Analyse vor allem sozialwissenschaftlicher Arbeiten, Besonderheiten dieser kleinen, aber wachsenden Gruppe heraus. Der Beitrag argumentiert, dass sich studierende wie berufstätige Muslimas aufgrund religiös legitimierter Genderrollen in verschiedenen westafrikanischen Kontexten in paradoxen Situationen wiederfinden, die sich als schwer aufzulösende „Zwickmühlen“ beschreiben lassen. Ferner weist er auf off ene Fragen zum beruflichen future making muslimischer Akademikerinnen in Westafrika hin.
Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, warum das Bildungsversprechen Entwicklungsdiskurse und -politik sowohl auf nationalstaatlicher als auch auf globaler Ebene nach wie vor dominiert. Warum halten nicht nur Entwicklungsorganisationen, sondern auch viele Familien an der Vorstellung fest, (schulische) Bildung garantiere ihren Kindern eine bessere Zukunft? Kann eine Zukunft ohne formale Schulbildung angesichts des dominanten Diskurses überhaupt noch imaginiert werden? Welche Alternativen stehen jungen Menschen und ihren Familien zur Verfügung? Welche Strategien wählen junge Menschen, um ihre Ziele zu erreichen, sollte sich die Investition in Bildung als präferierter Weg erweisen?
Der Beitrag von Ulrike Schultz thematisiert anhand ihrer eigenen langjährigen empirischen Forschung die Verknüpfung von Entwicklungsdiskursen und den persönlichen Aspirationen von Eltern und ihren Kindern anhand der Turkana, einer ethnischen Gruppe, die im Norden Kenias ansässig ist. Anhand der Biographien dreier Frauen und ihrer inzwischen erwachsenen Kinder wird deutlich, dass angesichts der wirtschaftlichen Situation des kenianischen Nationalstaates und der Marginalisierung der Turkana in Kenia westliche Schulbildung nicht nur viele junge Menschen, sondern auch ganze Familien in eine Falle führt. Diversifi zierungsstrategien werden aufgegeben; alles wird auf die Karte Schulbildung gesetzt. Das wiederum untergräbt die Voraussetzungen, die in vielen Fällen zum Erfolg der Schulkarriere geführt haben. Immer weniger Familien können auf Ressourcen in der mobilen Viehwirtschaft zurückgreifen und von Zeit zu Zeit Vieh verkaufen, um ihren Kindern eine kontinuierliche und erfolgreiche Schullaufbahn zu sichern. Dies führt zu einer zunehmenden Kluft zwischen den Hoffnungen einerseits und den Möglichkeiten und Chancen andererseits, die jungen Turkana und ihren Familien im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Einzelne (erfolgreiche) Absolvent*innen sind mit hohen Erwartungen und vielen Verpflichtungen konfrontiert, die es ihnen schwermachen, ihren Erfolg an die nächste Generation weiterzugeben. Auch aus diesem Grund kann man von einer „Bildungsfalle“ sprechen. Eher nebenbei zeigt der Beitrag, dass unterschiedliche Lebenswesen unterschiedliche Bildungsinhalte erfordern und unterschiedliche Bewertungen der Frage, wer als reich bzw. arm gilt, mit sich bringen. Die Bildungsinhalte der Entwicklungsdiskurse sind indes sehr in eurozentrischem Denken verwurzelt.
Bildungsentscheidungen stellen eine Investition in die Zukunft dar. An die Entscheidung für eine Universität sind verschiedene Vorstellungen und Ziele geknüpft. Somit gibt sie Aufschluss darüber, wie die Gegenwart und Möglichkeiten der Zukunft individuell evaluiert werden. Im Zentrum des Artikels von Norina Eliane Fischer steht die Entscheidung für ein Studium an der Deutsch-Jordanischen Universität, welches ein Auslandsjahr in Deutschland umfasst. Welche Ziele und Vorstellungen werden an das Studium geknüpft? Welche Rolle spielt die Studierendenmobilität im Entscheidungsprozess? Und nicht zuletzt: inwiefern handelt es sich um eine kollektive Entscheidung, die von der Familie beeinflusst wird? Anhand der Lebensverläufe von neun Studierenden beleuchtet der Beitrag die Bildungsentscheidungen und die daran geknüpften Zukunftsvorstellungen. Jordanien als ein Land, welches in einer konfl iktreichen Region liegt und eine junge Bevölkerung hat, stellt dabei einen spannenden Kontext dar. Es wird deutlich, dass die Bildungsentscheidungen mehrdimensional sind und von einer Wechselwirkung zwischen Bildungs- und Migrationsaspirationen begleitet werden.
Die wachsende Unsicherheit im Zusammenhang mit Schulbildung und die Verzweifl ung junger Absolvent*innen stellen Diskurse in Frage, die formale Schulbildung als klassischen Weg zum Erfolg und zur Sicherung des Lebensunterhalts darstellen. Diese Infragestellung ist oft eine Quelle von Diskussionen und Konfl ikten innerhalb von Familien – zwischen desillusionierten Jugendlichen und ihren Eltern. Dabei projizieren die Generationen unterschiedliche, teils antagonistische Sichtweisen auf ein und dieselbe Realität: die Nützlichkeit von Schule. Während Eltern vor allem die Möglichkeiten sehen, die Schulbildung bietet, denken die Jugendlichen an die Zeit, die sie investieren und an die Arbeitslosigkeit, die sie danach erwartet. Auf der Grundlage ethnografi scher Feldforschung unter Verwendung von Interviews, Fragebögen und Beobachtungen mit Jugendlichen, Eltern, Lehrern und anderen Akteuren analysiert Issa Tamou , wie Bildungskampagnen einerseits Gefühle von sozialem Prestige und Hoffnungen verstärken und somit als ein Alibi für die Förderung der Masseneinschulungen im ländlichen Nordbenin dienen. Andererseits zeigt er auf, wie junge Menschen Schule wahrnehmen und wie dies ihre zukunftsbezogenen Entscheidungen beeinflusst.
Das Thema Bildungsversprechen ist aber nicht nur eines des globalen Südens, denn angesichts von Globalisierungsprozessen müssen wir uns hierzulande genauso damit befassen. Immer wenn es um die Bildungsbeteiligung von Migrant*innen in Deutschland geht, wird der binäre Code des formalen Bildungssystems, der aus Bildungserfolg/ -misserfolg besteht, als Synonym für den migrationspolitischen Code von Integration/Desintegration gelesen. Banu Çitlak zeigt, dass diese Gleichsetzung weiterhin meritokratisch legitimiert wird, indem der soziale Aufstieg durch Bildung für Migrant*innen als einziger Weg nach oben beschrieben wird. Dabei werden sämtliche Restriktionen ignoriert, die diese Menschen im Bildungs-, Arbeits- und Ausbildungsmarkt vorfi nden. Dieser Widerspruch zwischen den realen Möglichkeiten und dem Bildungsversprechen, der sich im dominanten Imperativ von „Aufstieg durch Bildung“ äußert, führt zum Widerstand gegen medial vermittelte Narrationen von Integration und ihre symbolischen Vertreter*innen. Unter diesen Bedingungen stellt das Familiensystem ein Gegenkonzept mit eigenen Werten und Anerkennungsstrukturen dar.
Erdmute Alber zeigt, dass sich, ausgelöst durch die großen Bildungskampagnen und die Neoliberalisierung des Bildungswesens zu Beginn des 21. Jahrhunderts, elterliche Verpfl ichtungen gegenüber heranwachsenden Kindern im Norden der Republik Benin tiefgreifend verändert haben. Dies betriff t nicht allein die Kosten, die durch die vermehrte Einschulung von Kindern und den damit verbundenen gestiegenen Finanzbedarf für den Unterhalt der Schulen anfallen. Darüber hinaus übernehmen Eltern dort heutzutage häufig auch andere Kosten, die mit den schwierigen Rahmenbedingungen der Schullaufbahnen ihrer Kinder zusammenhängen, etwa für während der Schullaufbahnen eintretende Schwangerschaften und deren Folgen. Als Großeltern übernehmen sie oftmals die Betreuung von Enkelkindern, um den Kindern und Schwiegerkindern Ausbildungen oder die Fortsetzung der Schullaufbahn zu ermöglichen. Und schließlich kommen Eltern für zusätzliche Ausbildungen ihrer Söhne und (Schwieger-)Töchter auf, wenn der Schulbesuch allein nicht ausreicht, um den Kindern Beschäftigungsverhältnisse zu ermöglichen. Weil Schulerfolge und vor allem anschließende erfolgreiche Übergänge in Studium und Berufsleben sehr unsicher geworden sind, können in ländlichen Regionen Nordbenins lebende Eltern nicht mehr davon ausgehen, dass Kinder nach ihren Schulkarrieren selbst die Kosten ihrer Heirat aufbringen, wie dies lange Zeit der Fall war. Vor diesem empirischen Hintergrund erscheinen die Parolen der Bildungskampagnen, wie „Bildung für alle“, als ein Alibi, um die Unfähigkeit oder der Unwillen des Staates zu verschleiern, ökonomische Verantwortung für ein funktionierendes Bildungssystem zu übernehmen und tatsächlich Bildungschancen für die breite Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. In die Verantwortungslücke treten oftmals die Eltern mit ihrer moralischen und ökonomischen Bereitschaft, die Kinder zu unterstützen, soweit es ihnen möglich ist.
Die meisten inter-staatlichen Vergleiche von Bildungssystemen beschränken sich auf Zahlen zur Teilnahme an Hochschulbildung. Fabian Besche-Truthe präsentiert eine neue Metrik, die der hierarchischen Struktur von Bildungssystemen Rechnung trägt und auf den Hochschulzugang fokussiert. Seine Daten, die bis zu 180 Länder berücksichtigen und die über einen Zeitraum von 120 Jahren zusammengetragen wurden, zeigen, dass trotz der in den 1990er Jahren begonnenen Expansion eine relativ große Zahl von Bildungssystemen derzeit noch einen eher elitären Zugang zur Hochschulbildung hat, obwohl die Einschreibungsraten im Sekundarbereich hoch sind. Interstaatliche Unterschiede führt der Beitrag unter anderem auf koloniale Vergangenheit zurück. Auch wenn eine klare Assoziierung von zunehmender Hochschulausbildung und steigender Arbeitslosigkeit bei Hochgebildeten nicht erkennbar ist, lohnt es sich, regionale Variation in Arbeitsmärkten in Betracht zu ziehen. Denn in den Regionen Westasien und Nordafrika, die durch eine überdurchschnittlich hohe Jugendarbeitslosigkeit gekennzeichnet sind, steigt auch die Arbeitslosenquote bei Hochgebildeten stark an. Hier scheint expandierender Hochschulzugang das Bildungsversprechen nicht einzulösen.
Zwei Stichworte runden den thematischen Schwerpunkt dieses Heftes ab: Gabi Beckmann erläutert das Thema glaubensbezogener Bildung. In das Konzept der Bildung für Alle führt Sabrina Maurus ein.

Mit der vorliegenden Doppelausgabe schließen wir den 43. Jahrgang ab. Für 2024 bereiten wir Hefte zu den Themen „Internationalismus“, „Digitalisierung“ und „Racial Capitalism. Marxismus trifft Postkoloniale Studien“ vor. Für 2025 planen wir ein Heft über „Gelebte Utopie“. Als weitere Themen sind „Wissensproduktion im Globalen Süden / Horizontale Forschung“, „Lieferketten“ und „Antisemitismus und Rassismus“ in der Diskussion. Zu diesen und anderen Themen sind Beiträge sehr willkommen. Die entsprechenden Calls for Papers fi nden sich auf unserer oder auf der Homepage des Verlags unter https://www.budrich-journals.de/index.php/peripherie/pages/view/callforpapers, sobald sie veröffentlicht werden.
Zum Abschluss des aktuellen Jahrgangs gilt unser Dank den Gutachter*innen, die einmal mehr durch ihre gründliche, engagierte und kritische Arbeit zum Gelingen der Hefte maßgeblich beigetragen haben. Ihre Namen sind in alphabetischer Reihenfolge im Jahresregister aufgeführt. Ferner danken wir Sarah Becklake, die viele Jahre lang die Korrektur der Summaries übernommen hat. Leider hat sie nach dem Heft Nr. 169/170 „Krieg in Europa – Perspektiven aus dem Süden“ diese Tätigkeit aus persönlichen Gründen beendet. Wir bedanken uns herzlich für die Zeit, die sie diese Aufgabe mit großer Präzision und Zuverlässigkeit wahrgenommen hat. Eine Alternative haben wir bisher bedauerlicherweise nicht gefunden.
Schließlich danken wir allen Leser*innen, Abonnent*innen sowie den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Vereinigung für Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik e.V., der Herausgeberin der PERIPHERIE . Unsere größtenteils ehrenamtliche Arbeit ist weiterhin von Spenden abhängig. Eine für die langfristige Sicherung des Projekts besonders willkommene Förderung stellt die Mitgliedschaft im Verein dar, in der das Abonnement der Zeitschrift sowie regelmäßige Informationen über die Redaktionsarbeit enthalten sind. Wir freuen uns aber auch über einmalige Spenden. Unsere Bankverbindung fi nden Sie im Impressum.
Zu guter Letzt wünschen wir Ihnen und Euch eine aufschlussreiche und inspirierende Lektüre und ein gutes Jahr 2024.