Nr. 173 | Internationalismus |
Zu diesem Heft
Weltweit spürbare Krisen und Konflikte, wie sie mit dem Klimawandel, dem Corona-Virus, dem Ukraine-Krieg, dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem folgenden Krieg in Gaza einhergehen, legen die Forderung nach gemeinsamen Reaktionen nahe, die möglichst ebenfalls auf globaler Ebene erfolgen sollen. Regierungen und Politiker:innen aller Couleur fordern dementsprechend gerne internationale Solidarität ein. Häufig ist damit allerdings nicht viel mehr gemeint als die Aufforderung an andere Akteur:innen, sich der eigenen politischen Position anzuschließen. Von diesem Verständnis internationaler Solidarität soll in diesem Themenschwerpunkt nur am Rande die Rede sein.
Dem stehen Anstrengungen von engagierten Menschen und sozialen Bewegungen gegenüber, soziale Missstände durch grenzüberschreitende Formen der Zusammenarbeit anzugehen. Derartige solidarische Gegenentwürfe fragen nach Alternativen zur bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheit. Sie verbinden sich mit der Hoffnung, nationalstaatlich beschränkte Logiken hinter sich zu lassen. Ideen und Praktiken so verstandener internationaler Solidarität können einerseits zwar nicht die sich wandelnden globalen und lokalen Herrschaftsstrukturen sprengen. Kapitalistisches Weltsystem, Kolonialismus und seine Folgen oder patriarchale Geschlechterverhältnisse bleiben prägend für die Welt, in der wir leben. Andererseits aber deuten diese Hoffnungen auf intellektuelle Traditionen der Theoriebildung und Politik mit dem Ziel hin, Rahmenbedingungen von Emanzipation und sozialer Gerechtigkeit zu erkämpfen. Dies verweist noch immer auf Sozialismus und Feminismus. Gerade mit Blick auf eine Überwindung fortdauernder kolonialer Verhältnisse, aber auch in der Tradition der klassischen Arbeiter:innenbewegung kommt die Hoffnung hinzu, dass Kämpfe in unterschiedlichen Regionen einander stützen und vergleichbare Zielsetzungen verfolgen. Die mannigfachen Entwürfe und Praktiken von internationaler Solidarität waren freilich historisch durch unterschiedliche politische Ausgangsbedingungen und Vorstellungen geprägt. Entsprechend gehen mit internationaler Solidarität verschiedene Formen der Interaktion und Institutionalisierung einher, die zu kleinen wie großen Erfolgen und Misserfolgen geführt haben.
Analytisch lassen sich zwei Grundannahmen für grenzüberschreitende Solidarität unterscheiden: (1) Solidarität kann zunächst auf der Wahrnehmung einer gemeinsamen Ausgangs- und Interessenlage spezifischer Gruppen basieren. Das gilt für das klassische Paradigma des entrechteten und zugleich auf die sozialistische Umwälzung hinstrebenden Proletariats. (2) Solidarität kann aber auch auf der Annahme einer als ungerecht empfundenen, jedoch für die beteiligten Akteur:innen unterschiedlichen Ausgangslage im Kontext einer ungleichen Weltordnung fußen, etwa bezogen auf die Folgen kolonialer Ausplünderung oder asymmetrischer Geschlechterverhältnisse. Diese gelte es solidarisch zu überwinden, um verschiedene Formen von Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Menschen herzustellen.
Die Ideen und Praktiken diverser internationalistischer Bewegungen der Vergangenheit - bspw. des proletarischen Internationalismus der sozialistischen und kommunistischen Internationalen, der internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg, der Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen im Trikont seitens solidarischer Gruppen im Globalen Norden, zivilgesellschaftlicher Tribunale oder der Anti/Alter-Globalisierungs-Bewegung - finden bis heute, wenn auch in unterschiedlichem Maße, als Vor- und Wunschbilder sowie Impulsgeber ein Nachleben in Bezugnahmen auf internationale Solidarität. Bekannte Beispiele sind die internationalistischen Bewegungen und Gruppen, die sich mit den Aufständen und alternativen Gesellschaftsprojekten in Chiapas und Rojava solidarisieren. Die Erfahrungen rund um internationale Solidarität aus der Vergangenheit können aber auch auf problematische Projektionen, enttäuschte Hoffnungen, institutionelle Abnutzung und gefährliche Tendenzen des Umschlagens von Solidarität in Bevormundung oder autoritäre Politik aufmerksam machen.
Zudem treten in jüngerer Zeit vermehrt Praktiken globaler Solidarität und Zusammenarbeit in Erscheinung, die, zumindest auf den ersten Blick, ganz ohne die Referenz auf das Handeln zwischen nationalstaatlich abgegrenzten Zusammenhängen auszukommen scheinen, wie dies in dem Wort „international“ steckt. Beispielhaft können die Fridays-for-Future- oder die me-too-Bewegung, aber auch Black Lives Matter oder die gegen kolonialistische Denkmäler gerichteten, vom südafrikanischen Rhodes Must Fall inspirierten Bewegungen genannt werden. Ebenso haben sich Protestformen wie das Versammeln auf öffentlichen Plätzen vom Tahrir-Platz über die Puerta del Sol bis zur Wallstreet ausgebreitet. Auch die Performance „un violador en tu camino“ („Ein Vergewaltiger auf Deinem Weg“) der chilenischen Gruppe las tesis wurde weltweit von feministischen Gruppen aufgegriffen und übersetzt. Vor dem Hintergrund virtueller Kommunikationsformen und global vereinheitlichter sozialer Medien scheinen Praktiken der grenzüberschreitenden Vernetzung sowie das „Wandern“ von Protestformen über Kontinente hinweg neue Bezüge und Bedeutungen hinsichtlich Solidarität angenommen zu haben. Dennoch ließe sich sagen, dass sie vor Problemen stehen, die wenigstens in einer Hinsicht übertragbar sind: vor Problemen der Vermittlung gemeinsamer oder ähnlicher Kämpfe um eine freiere und gerechtere Weltordnung. Im vorliegenden Heft führen wir einige grundlegende Überlegungen zu Inhalten von Internationalismus sowie wichtige Erfahrungen internationalistischer Initiativen exemplarisch zusammen.
Internationale Solidarität beruht auf gegenseitiger Wahrnehmung und Bereicherung. Ein sehr gutes Beispiel ist das Gespräch, das Lilian Hümmler mit Verónica Gago und Luci Cavallero geführt hat. Im Zentrum steht der u.a. von Maria Mies angestoßene feministische Blick auf Gewalt als Produktivkraft, der gegenwärtig vor allem in den lateinamerikanischen Sozialwissenschaften diskutiert wird. Nicht zuletzt gehen unterschiedliche Perspektiven auf Differenzen in der Erfahrung manifester Gewalt zurück, die in den Metropolen den Anschein einer gewaltfreien Ökonomie erzeugen können. Es geht aber nicht allein darum, solche Wahrnehmungen aufzuklären, sondern auch darum sich des Verhältnisses zwischen der Analyse struktureller Zusammenhänge einerseits, der Zwänge konkreter Anforderungen zumal in der care-Arbeit andererseits bewusst zu sein.
Miriam Friz Trzeciak und Aram Ziai untersuchen zentrale Stränge der Debatten in und zu gegenwärtigen internationalistischen Bewegungen in Mexiko und Deutschland. Den Ausgangpunkt bilden die Auseinandersetzungen über Neuen Internationalismus, wie sie seit den 1970er Jahren seitens der Solidaritätsbewegungen zu sozialen, antikolonialen Bewegungen im globalen Süden angestoßen und schließlich im Kontext verschiedener sozialer Kämpfe diskutiert, ausgeweitet und transformiert wurden. Mittels einer Qualitativen Inhaltsanalyse rekonstruieren die Autor:innen zentrale Themen zu Gemeinsamkeiten sowie Divergenzen in Texten, die von der EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional, Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) und der BUKO (Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen, später Bundeskongress Internationalismus) von 1996 bis 2021 verfasst wurden. Es zeigen sich Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die Inhalte des Neuen Internationalismus; diese wurden jedoch entlang der situierten Kämpfe und Erfahrungen mit Unterdrückung und Marginalisierung unterschiedlich ausgelegt. Zugleich betonen die analysierten Texte die Notwendigkeit transnationaler Kämpfe und globaler Vernetzungen gegen Kapitalismus, um planetarischer Zerstörung und Ausbeutung entgegenzutreten.
In diesem Zusammenhang dokumentieren wir auch aus den Debatten im Umfeld der BUKO einen zentralen Text, der 1998 in der Zeitschrift alaska veröffentlicht wurde. Darin geht es um eine Standortbestimmung jenseits des Neuen Internationalismus, weil auch dieser in den Augen der alaska-Redaktion noch einer klassisch modernen, binären und letztlich patriarchalen Vorstellung von Emanzipation verhaftet war. Demgegenüber skizziert der Text Umrisse eines „postmodernen“ Internationalismus, der den prozesshaften Charakter von Befreiung und die eigene Verstrickung in gesellschaftliche Widersprüche hervorhebt. Einleitend erläutern zwei der Autor:innen, Christoph Spehr und Kai Kaschinski, damals Mitglieder der alaska-Redaktion, den historischen Kontext und die entsprechenden Bezüge des Textes und reflektieren seine Hauptgedanken mit dem Abstand und der Erfahrung des letzten Vierteljahrhunderts.
Ebenfalls aus dem Kontext der BUKO stammend hinterfragt Andrés Schmidt die für den Internationalismus einst grundlegende Vorstellung, der Kapitalismus sei das grundlegende Problem der Nord-Süd-Beziehungen und dessen (revolutionäre) Überwindung die anzustrebende Lösung. Gegenüber einer solchen Perspektive stellt Schmidt eine Tendenz zu weltweit vernetzten und in ihren jeweiligen Bereichen durchaus erfolgreichen Ein-Punkt-Bewegungen fest. Denn insgesamt stelle Kapitalismus für viele Menschen im Globalen Süden eher eine Verlockung als das zu bekämpfende Übel dar. Dennoch gebe es Probleme und Asymmetrien, die ohne Überwindung des Kapitalismus nicht zu lösen bzw. zu überwinden seien. Darum plädiert Schmidt dafür, weiterhin imperiale Praktiken zu skandalisieren und weniger „inter-nationalistisch“ als „radikal global“ zu denken, dabei aber nicht revolutionäre Perspektiven gegen reformistische auszuspielen.
Der Aufschwung von Befreiungskämpfen im Globalen Süden war von staatlichen Repressionen begleitet, die häufig mit schwersten Menschenrechtsverletzungen, besonders Folter einhergingen. Zur Unterstützung der Befreiungsbewegungen bildeten sich im Globalen Norden Solidaritätsbewegungen. In diesen heute oft vergessenen Zusammenhang, auf den nicht zuletzt auch internationale Großorganisationen wie amnesty international zurückgehen, stellen Knut Rauchfuss, Christian Cleusters und Bianca Schmolze die nach wie vor notwendige und mit großem Engagement auch in Deutschland geleistete psychosoziale Hilfe für Folteropfer und Geflüchtete. Eine zentrale Bedeutung hatten dabei die Erfahrungen in Lateinamerika. Zugleich konstatieren sie, dass der aktivistische Bezug auf die internationalistische Perspektive der „Befreiung“ in der heutigen Praxis deutlich in den Hintergrund getreten ist. Sie betonen, eine Neubesinnung auf diese Ursprünge könne auch der gegenwärtigen Arbeit nur förderlich sein.
Angesichts der zunehmenden Anzahl heißer Kriege und der Militarisierung von Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit gerade auch in westlichen Ländern erinnert Anne Engelhardt an die Möglichkeiten nicht militärischer Aktionen, zumal militanter Arbeitskämpfe, zur Beendigung von Kriegen. Sie verweist dazu auf die Revolutionen 1917 in Russland und 1918 in Deutschland, die das Ende des Ersten Weltkriegs bewirkten. Weiter listet sie aktuelle Aktionsformen gegen Kriege, vor allem gegen den Krieg in der Ukraine auf und betont hier die Bedeutung internationaler Solidarität.
In Anspielung an Olaf Scholz' Diktum anlässlich des russischen Angriffs auf die Ukraine erinnert Reinhart Kößler an die tiefgreifende „Zeitenwende“ im Jahr 1973. Damals leiteten sehr unterschiedliche, jeweils einschneidende Ereignisse wie der Putsch gegen die Regierung Allende in Chile und der Jom-Kippur-Krieg im Nahen Osten nicht nur das Ende emanzipativer Perspektiven und Entwicklungshoffnungen in vielen Teilen der Welt ein. Bald scheiterte auch der Versuch zur Schaffung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Vielmehr begründete der Aufstieg des Neoliberalismus eine neue Orthodoxie. Die chilenische Katastrophe war zugleich Anstoß einer verstärkten Lateinamerika-Solidarität, an die auch Rauchfuss u.a. erinnern.
Im Stichwort zum „proletarischen Internationalismus“ skizziert Reinhart Kößler Hintergründe, Werdegang und vor allem Ambivalenzen dieses oft mythologisch überhöhten Schlagwortes.
Mit dieser Ausgabe geht die PERIPHERIE in den 44. Jahrgang. Aus aktuellem Anlass bereiten wir für den Sommer eine Ausgabe zur öffentlichen Auseinandersetzung um den Krieg im Nahen Osten vor. Das dritte Heft dieses Jahres nimmt das Thema „Racial Capitalism“ in den Blick. Darüber hinaus planen wir für 2025 Ausgaben zu den Schwerpunkten „Gelebte Utopien“ sowie „Digitalisierung“. Zu diesen und anderen Themen sind Beiträge sehr willkommen. Sobald sie veröffentlicht werden, finden sich die entsprechenden Calls for Papers auf unserer Homepage sowie auf der Homepage unseres Verlags.
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